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Russetid

– norwegische Abschlussfeiern –

Wie beschreibt man die Russetid und was ist das?

Zunächst einmal gibt es keine direkte deutsche Übersetzung für das Wort, auch Apps versagen, da sie es mit „russische Zeit“ übersetzen – was leider völlig falsch ist.

Daher versuche ich es mit einer Beschreibung, um mich dem Kern des Begriffes zu nähern.

Die Russ sind zunächst einmal Abiturienten und das Wort leitet sich von der lateinischen Abkürzung „depositurus“ ab.

Ursprünglich standen die Feiern im Zusammenhang mit der Aufnahme an der Universität. Erst später wurden die Russefeiring auf die Zeit der Abiturprüfungen bezogen.

Bei der Russetid handelt es sich also um die Zeit von April bis zum 17. Mai, es ist die Zeit der selbst organisierten Abschlussfeiern.

Ab April sind viele norwegische Abiturienten in ganz Norwegen unterwegs und feiern. Man erkennt sie an ihren roten, grünen oder schwarzen Overalls, an ihren (manchmal lauten) Bussen, Autos und an ihren Mützen. Sie fahren durch die Gegend oder man sieht sie in den Straßen.

Sie feiern, dass sie nun die Schulzeit überstanden haben und natürlich auch die Examensprüfungen, auch wenn diese noch gar nicht abgeschlossen sind.

Es handelt sich dabei um ein norwegisches Phänomen, zu dem wir nichts Vergleichbares in Deutschland haben. Ja, es gibt natürlich auch in Deutschland Abschlussfeiern und Streiche, aber die norwegischen Traditionen gehen weit über die in anderen Ländern hinaus. Sowohl in Bezug auf die Dauer, den Umfang, die Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit und wahrscheinlich auch in Bezug auf die Kosten.

Es geht über das hinaus, was wir in Deutschland kennen. Es geht nicht nur um eine einzige Feier und ein bisschen drumherum. Es geht um einen etwas längeren Zeitraum, mit einer Taufe (russedåpen), Feiern, Streichen, größeren überregionalen Treffen, Ausflügen mit dem Russebuss und Autos an den Wochenenden und Straßenumzüge am 17. Mai, dem Nationalfeiertag.

Außerdem werden mehr oder weniger nette oder lustige Spitznamen vergeben, die auf Besonderheiten oder Eigenheiten hinweisen, z.B. „Gold Mädchen“ (auf Deutsch vergeben) sollte auf Pflichtbewusstsein und Ehrgeiz hinweisen.

Es ist also mehr als eine Abifeier, es ist eine mehrwöchige Party.

Der eigentliche Gedanke dabei ist, Spaß, eine schöne Abschlussfeier, bzw. eine schöne Zeit zusammenzuhaben, die positiv in Erinnerung bleibt.

17. Mai Umzug in Tynset

Die norwegische Tradition hat ihre historischen Wurzeln in Dänemark. Dort tauchte der Begriff schon im 17. Jahrhundert auf.

Die ersten Traditionen lassen sich aus den früheren Aufnahmeprüfungen der Studenten ableiten. Nach dem Bestehen durften die neuen Studenten ihre Kopfbedeckungen, die sie vorher tragen musste ablegen.

1905 kamen dann die roten Mützen dazu, wie sie auch von deutschen Studenten getragen wurden. Seit 1916 gab es dann die blauen Mützen.

In einem norwegischen Wörterbuch von 1964 wird das Wort russelue, noch als „Fuchsmütze“ übersetzt, was noch einmal den ursprünglichen Bezug zur Universität unterstreicht.

Die Feiern können, je nach Region, schon im Herbst beginnen. 2024 war der offizielle Beginn aber der 19. April, das Ende der 17. Mai, (teilweise auch etwas später).

Übrigens:

1979 wurde von der Politik beschlossen, dass die Abschlussprüfungen nach dem 17. Mai stattfinden sollten, um die exzessiven Feiern einzudämmen.

Das hat leider nicht geklappt, so dass sich nun das Problem ergibt, dass erst gefeiert wird und dann die Prüfungen stattfinden. Wer es hier übertreibt und dadurch schlechter abschließt oder gar durchfällt, kann im nächsten Jahr erneut antreten – und erneut feiern.

Aber die Politik will sich wieder mit diesem zeitlichen Problem beschäftigen.

Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von der Russetid.

Angefangen bei der Bekleidung, die anfangs nur aus den Mützen bestand, nun aber auch teilweise selbst umgestalteten Overalls und weitere Stücke umfasst, bis hin zu Visitenkarten.

Die Tradition mit den Bussen entstand in den 1960er Jahren. Dabei werden die Busse entweder gekauft oder gemietet. Wobei hier auch schon einmal Kosten in Höhe von über 1.000.000 NOK zusammenkommen können. So dass sich manch einer fragt, wo er das Geld auftreiben kann und ob er vielleicht sein Geld in einen Führerschein oder in den Bus investieren soll.

Und so bieten einige auch kleinen Dienstleistungen (Auto waschen o.ä.) an, um an Geld zu kommen.

Ein Wort zu den Mützenrusselue

Diese werden mit Knoten (russeknuter) verziert, die auf bestandene „Prüfungen“ verweisen, hier kann man wohl auch von Mutproben sprechen.

Diese Aufgaben und Prüfungen können schon in der Vorweihnachtszeit beginnen. Es handelt sich dann um „juleknuter“.

Die Aufgaben können sein:

– Lebensmittel für Bedürftige kaufen und verteilen,
– Kuchenverkauf,
– eine Rose an Unbekannte übergeben,
– sich eine ganze Schulstunde in Dessous in die Klasse setzen
– in einem Zelt im Garten eines Lehrer übernachten

aber auch

– innerhalb von 24 Stunden eine bestimmte Menge Bier oder Wein zu trinken (mit dem Hinweis: „kann gesundheitsschädlich sein“ *ekstremknuter*)
– 48 Stunden ohne Schlaf auszuhalten
– einen deutschen Porno mit maximaler Lautstärke im Unterricht anschauen [Warum gerade einen deutschen Porno?]
– mit 10 verschiedenen Personen Sex haben („natürlich geschützt“)
– Sex in einem Baum oder in der Schule zu haben.

Ein letzter Vorschlag, sich „RT24“ tätowieren zu lassen wurde extra markiert, man sollte vorher darüber nachdenken. (NB! Eget ansvar. Tenk deg om!)

Die Knoten oder Dinge wie z.B. ein Vorhängeschloss, können jedes Jahr eine andere Bedeutung haben, einfache Rückschlüsse sind daher nicht möglich.

Natürlich ist es streng verboten hier zu tricksen. Man muss also immer dafür sorgen, dass man Zeugen hat, die das später bestätigen können – vielleicht auch verbunden mit der Hoffnung, dass sie das nicht gefilmt und schon im Internet verbreitet haben.

Sollte man sich selber einen „Knoten“ und damit eine bestandene Prüfung zusprechen, ohne etwas dafür getan zu haben, ist mit „Strafen“ und der „öffentlichen Schande“ zu rechnen.

Da das Internet bekanntlich nie vergisst, wird auch der Hinweis gebracht, dass nicht alles gefilmt werden soll. Angesichts der oben aufgeführten „Prüfungen“ ist das wohl auch besser.

Und da es bei vielen Aufgaben um Alkohol und den sozialen Druck geht, fällt in diesem Zusammenhang das Wort «Drikkepresse» – der Druck, beim Alkohol mitmachen zu müssen.

Diejenigen, die sich für eine alkoholfreie Zeit entschieden haben, nenne sich «Edruss», von edru = nüchtern und russ = «Abiturient»

Hierbei handelt es sich um persönliche Visitenkarten, mit Bild, einem Motto und teilweise mit Telefonnummern. Bei Umzügen und anderen Gelegenheiten werden diese Karten verteilt oder einfach in die Menge geworfen.

einige Russekorter, gibt es natürlich auch in Blau

Die einzelnen Abschlussklassen lassen sich anhand der Farben der Overalls unterscheiden.

Es gibt die

rødruss (Gymnasium)

blåruss (Wirtschaftsgymnasium)

svartruss (Berufsschüler)

grønnruss (seit 2005 Schüler der Land- und Forstwirtschaft)

rosaruss (Kinder am Ende der Kindergartenzeit).

Russedåpen – Die Taufe …

… ist eine Zeremonie oder Party zum Beginn der Feiern für die Abiturienten.


Bei aller Freue und bei allem Spaß, so hat das Ganze auch seine Schattenseiten.

Jedes Jahr wird auch über Mobbing, Sex, exzessiven Alkoholgenuss und vermehrt über Drogen gesprochen.

Das Mobbing wird zunehmend wahrgenommen und kritisiert.

Wer wird zu einer Busgemeinschaft eingeladen und wer nicht. In manchen Artikeln und Umfragen ist von 10 % die Rede, die ausgeschlossen werden und dies als Mobbing empfinden. Außerdem wird der hohe Alkoholkonsum kritisiert, wenn es um das sprichwörtliche aber auch tatsächliche Trinken bis zum Umfallen geht, man schaue nur auf einige Aufgaben bei den russeknuter.

Aber auch die enormen Kosten und die Industrie, die sich immer mehr einbringt, werden kritisiert.

Die Busse

Ein weiteres Problem entsteht durch die Lärmbelästigung der Busse, die teilweise auch Lautsprecher auf dem Dach montiert haben und so extrem laut durch die Stadt fahren, was natürlich – oder muss man sagen überraschenderweise – verboten ist. Immer wieder beschweren sich Anwohner der Hauptstraßen über die nächtlichen Ruhestörungen.

Tynset

Vor einigen Jahren wurde die Anwohnerin einer Hauptstraße zitiert, die sich krankschreiben ließ, da sie zwei Wochen lang auf Grund der empfundenen Lärmbelästigung nicht mehr schlafen konnte, zufälligerweise handelte es sich um eine Lehrerin.

Die Polizei versucht dies durch vermehrte Kontrollen und Platzverweise in den Griff zu bekommen. Wenn man aber neben einem Drive-In-Imbiss wohnt, hat man nachts ein Problem… die haben rund um die Uhr geöffnet…

Oslo 2022
Oslo 2022

Werbung einer Firma:

[Wir] liefert Bussysteme für Reisebusse, die normalerweise bei großen Konzerten und Festivals eingesetzt werden. Durch den Einsatz solcher Lautsprecher und Festival-typischer Beschallungsanlagen erleben Sie sowohl innerhalb als auch außerhalb des Busses fantastische Höhen und Bässe.

Die Sicherheit der Busse…

…ist ein Thema, dass immer mehr in den Fokus der Politik, der Polizei und der Öffentlichkeit gerät. Denn oft sind die Busse alt und in einem schlechten Zustand, daher wird hier das Unfall- und Gefahrenpotential kritisiert.

Ein schlechter Zustand heißt in diesem Zusammenhang, dass z.B. die Bremsen oder die Federung einer Prüfung nicht standhalten oder dass die zulässige Personenzahl überschritten wird.

Und dass der Busfahrer während der Fahrt einen Gehörschutz trägt, wie man ihn von Baustellen oder aus dem Handwerk kennt, lässt erahnen, dass er bei der teilweise extrem lauten Musik während der Fahrt, sowieso nichts weiter hört.

Die installierten Licht- und Musikanlagen stellen außerdem ein Gefahrenpotential dar. Sie werden häufig auch noch durch ein zusätzliches, externes Stromaggregat in einem Anhänger versorgt, da ansonsten die verbauten Anlagen nicht genügt Strom bekommen. Dass diese Anhänger teilweise keine Zulassung für den Betrieb während der Fahrt haben, ist ein weiteres Problem.

Bei Kontrollen durch die Polizei werden aber auch Fahrer erwischt, die keinen passenden Führerschein für einen Bus haben oder die Sicherheitsvorschriften ignorieren.

Teilweise werden Busse mit ausländischen Zulassungen eingesetzt, um die norwegischen Bestimmungen zu umgehen.

Dies alles führt immer wieder zu Platzverweisen, Stilllegungen der Busse und entsprechenden Anzeigen.

Jetzt wurde wieder in der Politik über ein neues Gesetz diskutiert, dass nur noch Busse erlauben soll, deren Sitze in Fahrerrichtung zeigen und die keine Stehplätze mehr haben, der ÖPNV wird hierbei ausgenommen. Dies dürfte wohl so ziemlich jeden Russebuss treffen – und das ist ja auch das Ziel des Gesetzentwurfes.

Bei älteren Bussen sind zur Seite gerichtete Sitze noch erlaubt.

Aufgrund der vielen Punkte, die beachtet werden müssen, hat die Straßenverkehrsbehörde Statens Vegvesen extra eine Internetseite eingerichtet, auf der viele Themen noch einmal behandelt werden, damit die Busse eine Kontrolle überstehen. Es werden vorab auch spezielle technische Kontrollen angeboten. Nach bestandener Überprüfung erhalten sie eine russeoblat, diese ist für spätere Kontrollen sichtbar an der Frontscheibe anzubringen. Wird später ein Bus ohne die russeoblat angehalten, werden „ausführlichere“ Kontrollen durchgeführt.

Gratis kontroll av russebusser og russebiler | Statens vegvesen

Wer mehr über die Busse erfahren möchte, kann man sich YouTube Videos anschauen → Stichwort: Russebuss norge.


Nichtsdestotrotz wünsche ich allen Feiernden eine schöne Russetid – denn die steht im Vordergrund.


An dieser Stelle möchte ich mich bei Celine bedanken, die mich mit nützlichen Informationen und Tipps unterstützt hat!


Stand: Juni 2024

Bilder: Norwegen Journal


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